Teilhabe lernen fürs Leben

Konzertierte Angebote politischer Bildung für Jugendliche in Ostbelgien

Teilhabe oder Partizipation ist ein beliebtes gesellschaftspolitisches Thema der letzten Jahre. Besonders in Wahlkampfzeiten wird davon gesprochen, wie vor allem Jugendliche im Alltag mehr in politische Prozesse oder auch in die Parteipolitik eingebunden werden können. Wählen mit 16 Jahren ist dann meist eine der ersten Ideen, da sich alle Parteien, die dafür sind, natürlich mehr Wähler*innen versprechen. Aber wie passt das mit dem parallelen Diskurs über mangelndes Politikinteresse und fehlende politische Bildung zusammen?

Fächerübergreifende Politische Bildung

Hier ist die Politik gefragt, und zwar nicht mit Scheinangeboten zur schnellen Aufnahme ins politische Dasein durch die Herabsenkung des Wahlalters. Es braucht vielmehr ein konzertiertes Konzept, das Jugendlichen in einer ersten Phase verständlich macht, was in ihrem Alltag alles unter die Kategorie „politisch“ fällt. Ein guter Ansatzpunkt ist z.B. die Einführung von Angeboten zu fächerübergreifender bzw. -verbindender politischer Bildung in Grund- und Sekundarschulen. Das ist ein Konzept, das auch außerhalb des Unterrichts im Schulalltag demokratische Praxis, und damit die Einbindung der Schüler*innen in die schulischen Entscheidungsprozesse, fördert. In Ostbelgien gibt es seit dem Jahr 2018 ein – bisher zwar noch nicht verpflichtendes – Angebot für allen Schulformen, multifokale Lernangebote zu gesellschaftspolitischen Fragen in den unterschiedlichsten Fächern zu erarbeiten. Das IDP hilft bei der Implementierung dieser projektorientierten Unterrichtsweise. Das ist ein maßgeschneiderter Prozess, der es dem Kollegium ermöglicht die fächerübergreifenden Schnittmengen zu erarbeiten, um dann gemeinsame Vorgehensweisen zu erstellen. Dafür gibt es zwar auch eine Suchmaske auf dem ostbelgischen Bildungsserver, aber die pädagogische Freiheit überlässt jedem*r Lehrer*in die Auswahl der Themen, an denen Kompetenzen unterrichtet werden. Daher gibt es keine einheitlichen Lehrpläne und jede Schule wird zu einem Einzelfall. Das fächerverbindende oder -übergreifende Vorgehen macht den Kindern und Jugendlichen verständlich, dass es keine monodisziplinären Lösungen für die Probleme unserer Zeit gibt, sondern, dass man komplexe Denkvorgänge durchlaufen muss, um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Das beinhaltet natürlich auch einen kritischen Umgang mit der „schnellen Information“ in den sozialen Netzwerken. Einmal verstanden, warum es länger dauert, sich eine fundierte Meinung zu bilden, wächst auch das Verständnis für den großen Zeitaufwand, den  politische Entscheidungsprozesse benötigen.

Ein roter Faden durch die Schulzeit: handlungsorientierte, modularisierte Angebote

Das Institut für Demokratiepädagogik (IDP) bietet seit seiner Gründung im Januar 2019 zusammen mit verschiedenen anderen Kooperationspartnern*innen in Ostbelgien konzertierte demokratiepädagogische Angebote für Jugendliche an, die sich wie ein roter Faden durch die Schulzeit ziehen. Zu den regelmäßigen Partner*innen des IDP zählen der pädagogische Dienst des Parlamentes der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG), das Jugendbüro, die Jugendinformationszentren, sowie Alteo, eine Vereinigung zur Förderung der leichten Sprache.

Demokratie macht Schule – ein Jahresangebot für alle Klassen

Das IDP erstellt jedes Jahr den Katalog „Demokratie macht Schule“ mit Angeboten, die vom Ministerium vorfinanziert sind und von Lehrer*innen der Primar- und Sekundarschulen sowie Kindergärtner*innen gebucht werden können. Die angebotenen oft interaktiven Workshops umfassen Themen, die von Klimakrise bis Rhetorik gegen Stammtischparolen reichen.

DemocraCity

Es ist wichtig, dass es von der Grundschule an regelmäßig Angebote gibt, um die Kinder und Jugendliche mit Politiker*innen und politischen Institutionen, wie z.B. dem Parlament, in Kontakt bringen. Nur so können sich Kinder und Jugendliche diesen Institutionen handlungsorientiert nähern und ihre Funktionen verstehen. In Belgien gibt es z.B. „DemocraCity“, ein Planspiel der König Baudouin Stiftung. Es ermöglicht Kindern und Jugendlichen, in die Rolle von Stadtverordneten zu schlüpfen, nachdem sie verschiedene Parteien mit ihren Wahlangeboten geschaffen haben. Dann muss mit einem festen Budget ein Programm durchgesetzt werden. Das aber geht nur, wenn man mit anderen politischen Gruppierungen verhandelt und lernt, Kompromisse zu schließen. In Ostbelgien wird dieses Planspiel vom Eupener Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens den Schulen und auch anderen Besucher*innen angeboten. Das Spiel kann je nach Vorkenntnissen in seinen Anforderungen angepasst werden, so dass es auch kein Beinbruch ist, wenn ein*e Jugendliche*r zweimal in seinem Schulleben zum DemocraCity spielen ins Parlament kommt. Da es in Ostbelgien nur abendliche Parlamentssitzungen gibt, weil die Abgeordneten keine Berufspolitiker*innen sind und tagsüber in ihren eigentlichen Berufen arbeiten, kommen die Jugendlichen in den Genuss, im Parlament wirklichkeitsnah ihre Rolle zu spielen. Ein Gefühl, das nachwirkt, denn wer schon einmal im Parlament gewesen ist, und auf dem Platz eines Abgeordneten gesessen hat, um – wenn auch spielerisch – Politik in der Praxis zu betreiben, der vergisst diese Erfahrung nicht so schnell.

Zug der Demokratie, Lux

Zug der Demokratie

Außerdem bietet das IDP zusammen mit dem pädagogischen Dienst des Parlamentes der DG für Viertklässler*innen der Primarschulen seit dem Schuljahr 2021/22 den „Zug der Demokratie“ an. Dies ist ein Format, das von einem gleichnamigen Angebot des Zentrums fir politesch Bildung (ZpB) in Luxemburg inspiriert ist. Hier erarbeiten Schulklassen Wissen zu einem vorgegebenen gesellschaftspolitisch relevanten Thema. Dann stellen sie sich der Frage, was sie selbst als Bürger*innen, aber auch die Politiker*innen zur Lösung des Problems beitragen können. Die Ergebnisse der Recherche und die Fragen werden auf eine Doppelfigur aus Pappe, die eine*n Politiker*in und ein Kind darstellt, aufgeschrieben und dann an einem bestimmten Tag ins Parlament getragen. Dort wird in Kleingruppen mit einer*m Politiker*in diskutiert. Die Jugendlichen tragen Ergebnisse dieser Gespräche im Parlamentssaal vor. So entsteht eine Verbindung zwischen der Klasse und dem*r Politiker*in, der*die mit ihr debattiert hat. Das soll dazu beitragen, das Thema gemeinsam konkret in Angriff zu nehmen und eine gegenseitige Kontrollmöglichkeit über den Umsetzungsprozess zu schaffen.

Podiumsdiskussion: Abiturient*inen fragen – Politiker*innen antworten

Für die beiden letzten Klassen der Sekundarschule gibt es einmal im Jahr eine Podiumsdiskussion mit regionalen Politikern*innen. Die Fragen, die dabei diskutiert werden, formulieren die Jugendlichen im Vorhinein. Die Nachfrage der Jugendlichen nach mehr und direkterem Kontakt zu Politikern ist so groß, dass im nächsten Frühjahr das Planspiel „Lokal Europa“ vom politisch engagierten Brachland -Theaterensemble durchgeführt wird, wo Jugendliche und Politiker*innen auf Augenhöhe in die Rolle von Stammtischgänger*innen schlüpfen, die unverhofft in die Lage kommen, das Europäische Parlament zu ersetzen. Auch hier geht es um eine handlungsorientierte Erfahrung dessen, was Politik ist und wie sie funktioniert.

Jugendparlament

Ein Angebot, das über den Schulkontext hinausgeht, ist das Jugendparlament, das ab dem Jahr 2023 Jugendlichen ab 16 Jahren sowie jungen Erwachsenen in Ostbelgien die Gelegenheit bietet, zu erfahren, wie die Arbeit der Parlamentarier*innen und parlamentarischer Kommissionen funktioniert. Auch hier werden die Teilnehmenden in die Rolle der Politiker*innen schlüpfen und von den Kommissionsleiter*innen bei der Ausarbeitung von Dekreten und Ähnlichem begleitet, ganz so, als ob sie wirklich Parlamentarier*innen wären.

Das IDP fördert politische Bildung in handlungsorientierter und analoger Weise. Das heißt aber nicht, dass digitale Formen der Teilhabe nicht ihren Platz hätten. Ein großer Teil des Angebotes aus dem Katalog wurde im letzten Jahr auf digitale Formate umgearbeitet. Es bleibt ein Ziel, digitale Teilhabe auch in Zukunft anzubieten, damit z.B. auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität mehr Möglichkeiten haben, an unseren Angeboten teilnehmen zu können.

Fotocredits: Dr.in Tomke Lask, Institut für Demokratiepädagogik in Eupen, Ostbelgien.

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