Auf der Suche nach den eigenen Fähigkeiten, Talenten und Kräften
Ein trüber Mittwochnachmittag vor einigen Wochen. In der Erstberatung an der ifs Beratungsstelle meldet sich telefonisch eine junge Frau. Sie macht sich Sorgen um Laura, ihre Freundin, 18 Jahre. Im Moment sei Laura bei ihr zu Hause, sie weine und sei verzweifelt. Die Anruferin beschreibt ihre Freundin als „komplett neben sich“. Sie könne kaum sagen, was mit ihr los sei, spreche ständig davon, dass sie sich schuldig fühle und alle so enttäuscht habe. Am Telefon kann ich die Situation schwer einschätzen. Nachdem die junge Anruferin davon spricht, dass ihre Freundin sich schon seit längerer Zeit schlecht fühle und seit dem Herbst mehr oder weniger zu Hause „herumsitze“, lade ich sie ein, gemeinsam mit ihrer Freundin zu mir an die Beratungsstelle zu kommen. Eine halbe Stunde später sitzen die beiden vor mir.
Den Halt verlieren
Laura wirkt erschöpft und blass. Sie erzählt mir, dass sie seit einem halben Jahr ihre Zeit fast ausschließlich auf Social-Media-Kanälen verbringe. Dort habe sie sich mit der Zeit mehrere Profile angelegt und sei damit beschäftigt, auf Beiträge anderer zu reagieren, diese zu kommentieren und anschließend die darauf folgendenen Reaktionen und Kommentare auf ihre Beiträge zu beobachten. Dies laufe alles gleichzeitig. Sie fühle sich dadurch immer unsicherer, habe den Eindruck, dass sie nur abgelehnt werde. Sie erhalte viel Kritik, Leute würden über sie schimpfen, sie fühle sich immer schlechter. In der realen Welt gäbe es im Moment nur ihre Freundin, die sich nun um Hilfe für sie bemühe. Zwei Versuche, arbeiten zu gehen, habe sie im letzten halben Jahr abbrechen müssen. Sie habe sich bereits am ersten Tag so beobachtet und „falsch“ gefühlt, dass sie aus lauter Angst vom Arbeitsplatz davongelaufen sei.
Das Beispiel – nachgestellt aus einer realen Beratungssituation – zeigt sehr deutlich, was passiert, wenn Jugendliche die Sicherheit in sich selbst und somit den Halt verloren haben. Laura, unsere Beispielklientin, hat immer verzweifelter versucht, sich in der digitalen Außenwelt Bestätigung und positives Feedback zu holen – in der Hoffnung, ihr Selbstbewusstsein damit (wieder)herzustellen.
Erwachsene als Spiegel
Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung von Babys und Kindern: Von Entwicklungspsycholog*innen wissen wir, dass das Wahrnehmen und Erleben von sich selbst, der eigenen Fähigkeiten und Talente nichts ist, was von heute auf morgen passiert. Es braucht Zeit, bis ein Kind sich selbst als Persönlichkeit, die eigene Entscheidungen treffen kann, wahrnimmt. Für diesen Prozess brauchen Babys und Kinder Erwachsene als sogenannten „Spiegel“. Die Art, wie wir mit Kindern sprechen, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten und wie wir unsere Emotionen zum Ausdruck bringen – all das beeinflusst Kinder in ihrer Entwicklung zu sich selbst. Präsente, aufrichtige und wertschätzende Erwachsene sind sozusagen das Fundament dafür, dass sich Kinder und Jugendliche später ihrer eigenen Talente und Fähigkeiten bewusst sind und darauf zurückgreifen können.
Fehler sind menschlich
Das klingt alles recht logisch und einfach, doch wissen wir, dass die Welt und unser Alltag nicht für jede*n und ständig optimal laufen. Bezugspersonen stecken selbst in schwierigen Lebenssituationen, existenzielle Bedrohungen können täglich Sorgen verursachen, eigene psychische oder körperliche Erkrankungen belasten vielleicht und schließlich wissen wir seit zwei Jahren, dass Bedrohungen von außen schneller als vermutet unseren Alltag auf den Kopf stellen können. Wer in solchen Situationen den Fokus der eigenen Kinder immer gut im Blick haben kann, erscheint fast übermenschlich. In diesem Sinne sind wir froh um die Entlastung durch Donald Winnicott (britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, 1896 –1971), der bereits im vorigen Jahrhundert darauf hinwies, dass die „ausreichend gute Mutter“, wie er es nannte, die nach ihren Möglichkeiten ihr Bestes gibt, genügt. Somit sind Fehler, die uns Erwachsenen passieren, durchaus erlaubt, weil sie menschlich sind. Ein Bewusstsein darüber zu haben, sich eventuell zu entschuldigen und Dinge das nächste Mal anders zu machen, ist aber essenziell. Zudem sind wir in solchen Situationen Modelle für unsere Kinder, was Fehlerkultur und den Umgang mit der eigenen Unzulänglichkeit betrifft. Unsere mitteleuropäische Gesellschaft – im Besonderen unsere alemannische Mentalität – hat tendenziell Mühe damit, Fähigkeiten von Menschen zu benennen, Talente herauszuheben oder große Leistungen zu loben. Vor allem wenn Menschen das Gute über sich selbst erwähnen, gilt schnell das Sprichwort „Eigenlob stinkt“. Wir neigen dazu, uns zurückzunehmen und eher die Fehler zu betonen – ganz nach dem Motto „Bescheidenheit ist eine Tugend“. Auch die Schul- und Bildungskultur vieler Generationen ist geprägt davon, dass Kinder und Jugendliche auf Fehler hingewiesen werden. Noch immer wird der Fokus darauf gerichtet, dass Schüler*innen ein bestimmtes Soll zu erreichen haben. Jede Abweichung davon wird als Manko vermerkt, ganz egal welche anderen Fähigkeiten oder Talente parallel dazu vorhanden sind oder entwickelt wurden. Dies führt dazu, dass Kinder und Jugendliche diese Form der Ab- oder Bewertung für sich selbst sehr leicht übernehmen und integrieren. Sie fühlen sich z. B. als „schlechte Schülerinnen“, als „Repetentinnen“, oder einfach als „Versager*innen“.
Gemeinsam auf der Suche
Unsere Arbeit an der ifs Beratungsstelle oder in der ifs Jugendberatung ist immer auch dadurch gekennzeichnet, dass wir uns mit den Jugendlichen auf den Weg machen und gemeinsam mit ihnen nach ihren Ressourcen und Fähigkeiten suchen. Es ist nie der Fall, dass jemand „talentelos“ zu uns kommt, und wir sind davon überzeugt, dass jeder Mensch Fähigkeiten besitzt. Was allerding sehr oft passiert, ist, dass Jugendlichen nichts einfällt, wenn sie nach ihren Fähigkeiten gefragt werden. Unsere Fragen sind in diesem Zusammenhang für die Betroffenen oft sehr ungewohnt. Wir vermuten dann, dass es schon lange keine Menschen mehr im Umfeld gegeben hat, die sie nach ihrer Meinung oder ihren Interessen gefragt haben. In diesem Sinne haben es Jugendliche manchmal verlernt, die eigenen Stärken zu sehen und sich darauf zu stützen. Zu oft hören sie Abwertungen und Kritik über ihre Fehlleistungen. Es entsteht dann für sie der (oft unbewusste) Eindruck, dass ihre Ideen und Meinungen wohl auch nicht wichtig sein können.
Schritt für Schritt Vertrauen in sich selbst fassen
So ging es im Übrigen auch mit Laura, unserer Beispielklientin, weiter. Mein Interesse an ihrem Leben, an ihren Gedanken vor dieser ganzen Spirale, in die sie reingezogen wurde, hat sie anfangs sehr sprachlos gemacht. Laura hat auf eine sehr eigene Art den Faden zu sich selbst verloren. Sie musste erst langsam wieder darüber nachdenken, was sie eigentlich gerne tut, was sie schon lange nicht mehr getan hat, was sie gut kann und zu welchen Menschen sie gerne und guten Kontakt hat. Als sie verstanden hat, dass sie in der digitalen Welt nicht die erhofften Rückmeldungen erhalten wird und das „In-den-digitalen-Spiegel-Sehen“ alles andere als echte Freundschaften sind, kann sie Schritt für Schritt ihr Verhalten ändern. Laura traut sich ganz langsam, kleine, aber überschaubare Kontakte mit der realen Welt aufzunehmen. Zu Beginn muss sie oft mit ihrer Unsicherheit und ihren Ängsten kämpfen, aber mit der Zeit fasst sie wieder Vertrauen zu sich selbst und lernt, Gelungenes zu erkennen und sich darüber zu freuen. Das Vertrauen in sich selbst kann sie wieder mehr spüren und der Alltag fühlt sich wieder bewältigbar an.
Gerade in einer Zeit wie dieser sind Ressourcen, Talente und Fähigkeiten absolut wichtige Kraftquellen für Menschen jeden Alters. Vor allem als Erwachsene müssen wir versuchen, unsere Kinder und Jugendlichen so zu stärken, dass sie sich ihrer Kraftquellen bewusst sind und auf diese zurückgreifen können. In diesem Sinne – bemühen wir uns darum, freundliche, wertschätzende und ermutigende Spiegel zu sein!